Marilu – das verkannte Genie
Sie war eine westfälische Siegerstute, die nur wenige zuvor auf dem Schirm hatten, gleichsam aber eine außergewöhnliche Pferdepersönlichkeit und Mutterstute: StPrSt. Marilu von Mon Cheri – Ehrentusch – Parcours. Hier ist ihre ungewöhnliche Geschichte.
Marilu wurde 1997 als drittes Fohlen ihrer Mutter Etienne von Ehrentusch – Parcours auf dem Hof ihres Züchters Bernhard Große Lefert in Steinfurt-Borghorst geboren. Schon ihre Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und Ur-Urgroßmutter waren im selben Stall geboren worden. Große Lefert, ein typischer bäuerlicher Züchter im pferdestarken Kreis Steinfurt im nördlichen Münsterland, war schon früher als andere von der entscheidenden Bedeutung des Reitsports für die Zukunft der westfälischen Pferdezucht überzeugt.
Holsteiner Stammstute Gundi
Diese Überzeugung bewog Bernhard Große Lefert zum Kauf der edel gezogenen Holsteiner Stute Gundi vom Traventhaler Landbeschäler und späteren Holsteiner Verbandshengst Galvani (*1953) von Gaugraf aus einer Tochter des Vollblüters Alabaster xx von Ferro xx, die zugleich Halbschwester des damaligen Holsteiner Spitzenhengstes Fähnrich, geb. 1953 von Fachmann war. Mit Gundi startete Große Lefert selbst noch auf Turnieren sowohl in der Dressur als auch im Springen, so wie dies Ende der 1960er Jahre im ländlichen Reitsport Westfalens üblich war. Ein Mannschaftspferd par excellence.
1970 nahm Große Lefert Gundi in die Zucht, trotz wenig schmeichelhafter Kommentare des westfälischen Zuchtleiters Dr. Ferdinand Dohmen bei der Stutbucheintragung: „Zu leicht, zu fein, kein Stutentyp“. Gundis Erstling vom Warendorfer Landbeschäler Adlerorden war der braune Adlerfang 2, der Erfolge bis M-Springen erzielte.
Gundis Romulus I-Tochter Rocca wurde dreijährig an den Warendorfer Vollblüter Angelo xx angepaart, der u.a. als Vater des Olympiasiegers Ahlerich unter Dr. Reiner Klimke Berühmtheit erlangte. Ergebnis dieser Paarung war die 1977 geborene braune Stute Angelique, deren Vollbruder Angelino (*1979) L-Springen und M-Dressur gewinnen konnte. Auch Angelique war doppelt veranlagt, gewann A-Dressuren und A-Springen und war unter verschiedenen Reitern, u.a. der Züchtertochter Tanja (heute Tierärztin Dr. Tanja Müller-Lefert) Rückgrat der Borghorster Mannschaft bei etlichen Standarten-Wettkämpfen.
In Anpaarung mit dem Warendorfer Leistungsvererber Frühlingsrausch (v. Frühling – Sinus xx) brachte Angelique mit der 1982 geborenen dunkelbraunen Stute Fantasie eine wirklich überragende Leistungsvererberin, die mit dem Paradox-Sohn Parcours Ldb. u.a die in S-Springen erfolgreichen Staatsprämienstuten Pim Beche (Eliteschau Münster 1990: I-b) und Pan Am brachte, sowie in Anpaarung mit dem HLP-Sieger Rosenkavalier Ldb. (v. Romadour II – Dilettant) die beiden S-Dressursieger Rosello und Revian. Die Fantasie-Tochter StPrSt. Pan Am lieferte u.a. den in Oldenburg gekörten HLP-Sieger und bis Grand Prix erfolgreichen Polany-Sohn Polano (*1993). Eine ganz außergewöhnliche Vererbungsleistung.
Fantasies Erstling war ebenfalls bereits eine Parcours-Tochter gewesen, somit Vollschwester zu StPrSt. Pim Beche und StPrSt. Pan Am: die 1986 geborene Rappstute Porquoi, für die der auf der nahegelegenen Landgestütsdeckstelle Neuenkirchen stationierte rheinische Siegerhengst und HLP-Sieger Ehrentusch Ldb. von Ehrensold die Passerpaarung darstellte. Gleich als Erstling kam Etienne zur Welt, als Fuchsstute eher ungewöhnlich im Stall Große Lefert. Vollschwester Esmeralda GS siegte später in M-Dressur, Vollschwester Eskada 4 in M-Springen. Etienne hingegen verdiente sich, durchaus auch ein verläßlicher Maßstab für Leistungsbereitschaft, Härte und Zuverlässigkeit, ihren Hafer im Reitbetrieb Große Lefert, der im Laufe der Zeit stattliche Ausmaße angenommen und einen hervorragenden Ruf erworben hatte.
Pourquoi von Parcours – Frühlingsrausch im Alter von 25 Jahren auf dem Hof Große Lefert in Steinfurt-Borghorst, ein Musterbeispiel von Treue, Leistungsbereitschaft und Vitalität. (Foto: Archiv Große Lefert)
Geheimtipp Marilu
Aber auch Etienne wurde gedeckt und lieferte in Anpaarung mit dem noblen, dunkelbraunen Hannoveraner Matcho AA-Sohn und Münsteraner Reservesiegerhengst Mon Cheri Ldb. die Material-Siegerin Ma Belle (*1995) und die unter Susanne Mohr in Holstein mehrfach in S-Dressur erfolgreiche dunkelbraune Madonna 96 (*1996). Marilu, die zunächst etwas knapp in der Größe und Rahmen erschien, kam als dritte Vollschwester 1997 zur Welt und wechselte als Jährling im Herbst 1998 in den Besitz von Anke Mende in Nordwalde, wo sie auch den Rest ihrer Jugend verbrachte. Dreijährig, damals erst knapp 162 cm Stm. groß, wurde die Dunkelbraune von Martina Albrecht in Horstmar angeritten. Am 4. Mai 2000 trat Marilu erstmals an die Öffentlichkeit: in der Reitanlage Gestüt Letter Berg in Coesfeld-Lette zur Stutenprüfung „Westfalen-Test“, die Marilu mit exzellenten Einzelnoten und der Gesamtnote 7,96 als Prüfungsbeste abschloss. Drei Tage später beim Turnier in Ahaus-Ottenstein siegte sie wiederum unter Martina Albrecht vom Fleck weg überlegen in ihrer allerersten Reitpferdeprüfung, wobei alle drei Grundgangarten gleichermaßen überzeugten. Weitere vier Wochen später stand die Stutenschau in Coesfeld-Lette auf dem Programm, bei der die charmante, aber immer noch nicht auffällige Stute von der Zuchtbuchkommission des Westfälischen Pferdestammbuchs „nur“ an die 2. Stelle gesetzt, aber dennoch zur Eliteschau in Münster-Handorf zugelassen wurde.
Ein diskreter Hinweis des Zuchtleiters Dr. Friedrich Marahrens, dass man sich Marilu auch für größere Aufgaben wie das BundesChampionat und die Elite-Auktion vorstellen könnte, weckte neue, ungeahnte Hoffnungen. Marilu wechselte zur Vorbereitung auf die Championatssichtung zu Pferdewirtschaftsmeisterin Henrike Sommer, die sie zunächst Ende August beim Turnier der Sieger vor dem Münsteraner Schloss vorstellte. Der 7. Platz entsprach dabei keinesfalls den Erwartungen des Marilu-Teams, sodass auch die BundesChampionatsträume aufgegeben werden mußten.
Siegerstute der Eliteschau 2000
Die Eliteschau der 96 besten dreijährigen Stuten Westfalens am 23. August 2000 in Münster-Handorf, bei der die Kandidatinnen nur an der Hand präsentiert werden, sah Marilu in Top-Kondition. I-a auf ihrem Ring und zur Überraschung vieler dann auf dem Endring die Proklamation als Westfälische Siegerstute 2000, leider begleitet von vereinzelten Pfiffen aus dem Publikum. „Eine Stute, die nicht viele auf dem Zettel hatten“, erläuterte Zuchtleiter Dr. Friedrich Marahrens bei seiner Kommentierung, „aber eine Stute, die in der Summe ihrer Eigenschaften als Reitpferd und Zuchtstutenmodell an die Spitze gehört!“ Er lobte die überragende Sattellage mit großer Schulter, die Korrektheit der Bewegungen mit viel Schub und vor allem den überaus ergiebigen Schritt.
StPrSt. Marilu von Mon Cheri als Siegerstute der 35. Westf. Eliteschau 2000 auf dem Titel des Verbandsmagazins „Reiter & Pferde in Westfalen“ Nr. 9/2000.
Am 8. Oktober 2000 stand für Marilu die 20. NRW Elite-Auktion auf dem Programm. Henrike Sommer stellte die Stute auch dort vor, die reichlich ausprobiert worden war, fast mehr, als man ihr zumuten wollte. Bei 44.000 DM fiel der Hammer von Auktionator Bernd Richter für eine Spontankäuferin aus Norddeutschland. Drei Tage später erfolgte der Transport nach Hamburg und die „Kaufreue“ der Erwerberin, die zuvor kein einziges Mal im Sattel von Marilu Platz genommen hatte. Ein Tierarzt diagnostizierte eine Schulterzerrung. Es erfolgte die Reklamation und die Rückgabe des Pferdes, die das Westfälische Pferdestammbuch gerne geräuschlos abwickeln wollte.
Besitzerin Anke Mende war totunglücklich, wollte aber ihr Pferd nicht bei jemandem belassen, der Vorbehalte – gleich welcher Art – gegen diese besondere Stute hatte. So beriet man sich mit dem Leiter der Landgestütsdeckstelle Coesfeld, dem späteren Obersattelmeister Erich Brebaum, der spontan zum Telefonhörer griff und bei Rolf Schettler anrief. „Du hast eine Reservesiegerstute im Stall“, sagte er, „was Du noch brauchst, ist eine Siegerstute!“ Wie passend, dass Rolf Schettlers Schwiegervater, der prominente Münsteraner Zahnarzt Dr. Dr. Heinz Erpenstein tatsächlich auf der Suche nach einer Klassestute war, da dessen StPrSt. Fleurette von Feuerfunke xx kurz zuvor eingegangen war. So vereinbarte man, Marilu schon wenige Tage später in Nordwalde anzusehen und wurde sich – mit entsprechendem Discount zum Auktionspreis und unter Ausschluss jeglicher Gewährleistung – handelseinig, allerdings in der Weise, dass Rolf Schettler und sein Schwiegervater sich je zur Hälfte an Marilu beteiligten. Geburtsstunde der erfolgreichen Zuchtgemeinschaft Schettler/Erpenstein.
Wiederum wenige Tage später zog Marilu auf den Hof Schettler nach Lippramsdorf um. Gleich im zeitigen Frühjahr 2001 wurde sie erfolgreich von dem ältesten gekörten Florestan-Sohn Fleurop Ldb. gedeckt und brachte im Folgejahr ein überaus stattliches und bewegungsstarkes braunes Hengstfohlen, dem als Hengstanwärter auf dem Hof Dieckhoff-Holsen in Telgte größte Hoffnungen galten, bis er gerade zweijährig unglücklich ums Leben kam.
Im Sommer 2002 vertrat Marilu, erneut tragend von Fleurop Ldb., westfälischen Farben bei der Bundesstutenschau in Neustadt/Dosse. Eine abenteuerliche Expedition, weil durch das Jahrhundert-Hochwasser der Elbe und die Sperrung einiger Autobahnbrücken über die Elbe die Anreise sehr erschwert war. Durch das sehr fordernde Hengstfohlen bei Fuß war Marilu nicht in optimaler Schaukondition, sodass es nicht für einen der erhofften vordersten Plätze im Gipfeltreffen der besten deutschen Stuten reichte. Besonders ärgerlich war allerdings, dass bei der Trächtigkeitskontrolle im Herbst auch noch der Verlust der Leibesfrucht feststellt werden musste.
Archie Moore alias Alex goes international
Im Folgejahr wurde Marilu aber sofort wieder tragend und zwar von dem dunkelbraunen und doppelt veranlagten Warendorfer Landbeschäler Arpeggio von Accord II. Das Produkt dieser Paarung war der international renomierte Springer Alex (ex Archie Moore), der im Gestüt Letter Berg für die Zuchtgemeinschaft Schettler/Erpenstein aufgezogen und zunächst auf die Körung vorbereitet wurde. Nach verpasstem Körziel wurde der Wallach von Dr. Uta Schettler (geb. Erpenstein) angeritten und über die Westfalen-Auktion in die Niederlande versteigert. Unter dem Sattel der jungen holländischen Springreiterin Maureen Bonder reifte er bis zur Nationenpreis-Klasse, siegte mehrfach international und ging schließlich für stolze 2,5 Mio. Dollar über den Großen Teich zu Audrey Coulter/USA. Nach zweimaliger Finalteilnahme an den World Cup Finals in Göteborg/SWE 2016 und Omaha/USA 2017 wechselte der unermüdliche braune Wallach für einen nicht genannten Kaufpreis in den Stall von Jennifer Gates, der ältesten Tochter des legendären Microsoft-Gründers Bill Gates, die weitere internationale Springen und die US-Springmeisterschaft U25 mit Alex gewinnen konnte.
Alex (ex Archie Moore) von Arpeggio a. d. StPrSt Marilu v. Mon Cherie – Ehrentusch unter Jennifer Gates als Sieger des Rolex Grand Prix im New Yorker Central Park.
Stammhalterin StPrSt. San Cherie
Nach dem Tod von Dr. Dr. Heinz Erpenstein übernahm dessen Sohn, Tierarzt Dr. Christoph Erpenstein in Friedberg/Hessen Marilu, züchtete daraus einen Hengst von Flovino sowie die springbegabte braune Cessna 16 von Conteur, bevor er sie dann an Günter Voss (Gestüt Letter Berg) in Coesfeld-Lette weitergab. Dort brachte sie auf Anpaarungsempfehlung von Rolf Schettler 2009 ein braunes Stutfohlen vom Oldenburger Prämienhengst San Amour von Sandro Hit – Plaisir d’Amour, das im selben Jahr Siegerfohlen der Coesfelder Stutenschau und dreijährig an gleicher Stelle unter dem Namen San Cherie Siegerstute wurde mit Zulassung zur Eliteschau. Mit der Endnote von 8,19 legte die rittige und nervenstarke, 164 cm Stm. große Dunkelbraune in Marl eine der besten Stutenprüfungen ihres Jahrgangs ab. Bei ihrem einzigen Start als Dreijährige in einer Reitpferdeprüfung wurde sie unter Jennifer Hoffmann/USA, damals Bereiterin auf dem Gestüt Letter Berg, Dritte und schließlich für die Westfalen-Auktion im Herbst 2012 gefesselt, wo sie für 22.000 € an die Frankfurter Familie Manganaro zugeschlagen wurde. Unter deren Patronat und unter dem Sattel der bereits international erfolgreichen Ponyreiterin Annabelle Manganaro durchlief San Cherie, inzwischen Staatsprämienstute, die gesamte Skala der Dressurprüfungen mit Siegen in Reitpferde- und Dressurpferdeprüfungen Kl. A, L und M, u. a. mit Qualifikation zum BundesChampionat Dressurpferde 2005 sowie Siegen in Kl. M und S. Insgesamt 16 S-Placierungen bis Intermediaire II (mit Piaffe, Passage und Einerwechseln), davon zwei Siege stehen für San Cherie zu Buche und sicherten ihr zusätzlich den Titel der „Leistungsstute Dressur“ und die Eintragung ins FN-Leistungsstutbuch.
StPrSt. San Cherie von San Amour a. d. StPrSt. Marilu v. Mon Cheri – Ehrentusch: S-siegreich unter Annabelle Manganaro (Foto: Archiv Manganaro-Hoock)
2019 ging sie in die Zucht und lieferte als Erstling den vielversprechenden dunkelbraunen Valterri von Vitalis, der inzwischen die ersten Lektionen unter dem Sattel gelernt hat. Anfang 2021 wechselte San Cherie auf den Hof Schettler, auf dem bereits ihre Mutter so segensreich gewirkt hatte. Für die Zuchtgemeinschaft Schettler/Hoock (Manganaro) lieferte sie Ostern 2022 das hochnoble und bewegungsstarke Stutfohlen Merci Cherie vom Oldenburger Spitzenvererber und Grand Prix-Sieger Morricone von Millennium – Rubin Royal und am 1. Mai 2023 das noble und bewegungsstarke dunkelbraune Hengstfohlen Danse de Mai („Tanz in den Mai“) vom WM-Finalisten und S-Dressursieger Dancier Gold von Dancier – Weltmeyer, das anlässlich der Westfalen-Woche 2023 über die Fohlenauktion an das Gestüt Sprehe, Besitzer des Fohlenvaters Dancier Gold FRH, versteigert wurde und dort als Hengstanwärter aufgezogen wird.
Mit einem zu Pfingsten 2024 geborenen braunen Hengstfohlen vom Prämienhengst und HLP-Sieger Escaneno (Escamillo – Veneno), typvoll, korrekt und bewegungsstark könnte San Cherie ihr Meisterstück geliefert haben. Ein Hengstanwärter par excellence!
StPrSt. Marilu schied 2011 im Gestüt Letter Berg mit einer tödlich verlaufenen Kolik aus, hat aber beste Chancen, in ihrer in Typ und Habitus sehr ähnlichen Tochter StPrSt. San Cherie und ihrer qualitätvollen Enkelin Merci Cherie von Morricone züchterisch weiterzuleben. Eine besser abgesicherte Leistungsvererbung ist schlichtweg nicht vorstellbar.